30. KAPITEL

Victor Hobson lag kurz nach Mitternacht in seinem Hotelbett, am Ende eines fruchtlosen Tages, an dem er zwischen dem Hauptquartier der Portland Polizei und dem Büro des FBI hin und her gependelt war. Um fünf Uhr morgens zwang er sich aus dem Bett und fühlte sich erschöpfter als in der Nacht zuvor. An der Ostküste war es acht Uhr. Zu Hause würde er fast eine Stunde hinter seinem Zeitplan herhinken.

Der Spiegel im Bad des Hotelzimmers war nicht sehr freundlich zu Hobson. Eine Rasur und eine kalte Dusche belebten ihn etwas, aber es deprimierte ihn, dass er bei der Fahndung nicht weiterkam.

Carl Rice schien in den letzten zwanzig Jahren so ungreifbar gewesen zu sein wie ein Geist. Manchmal hatte Hobson sich gefragt, ob Rice nicht nur eine Ausgeburt seiner Phantasie war. Victor konnte einfach nicht begreifen, wie ein Mensch so vollkommen verschwinden konnte.

Für einen Anruf an der Ostküste war es zu spät gewesen, als er ins Bett ging, also rief Hobson seine Frau nun an. Emily und die Kinder waren gewiss bereits aufgestanden. Er griff nach dem Hoteltelefon, als sein Handy klingelte.

»Victor, hier spricht Vanessa Kohler.«

Ihre Stimme wirkte auf Hobson wie eine Injektion mit Koffein. »Wo sind Sie?«

»Im Haus meines Vaters. Carl Rice ist bei mir. Sie wissen, wo das Haus liegt, richtig?«

»Ja.«

»Die Männer meines Vaters haben mich gekidnappt und mich mit Drogen betäubt. Carl ist hier eingebrochen und hat versucht, mich zu retten, aber jetzt sitzen wir in der Falle. Wir haben uns in einem Dienstbotenzimmer im ersten Stock verbarrikadiert. Die Handlanger meines Vaters wollen uns umbringen. Wir sind bewaffnet und kämpfen, wenn wir müssen, aber wir würden uns lieber der Polizei ergeben.«

»Das kann ich arrangieren.«

»Dann beeilen Sie sich! Ich weiß nicht, wie lange mein Vater wartet, bis er seinen Leuten befiehlt, das Zimmer zu stürmen. Sagen Sie der örtlichen Polizei, wo wir sind und dass wir uns ihnen ergeben wollen. Sie müssen uns aus dem Zimmer holen! Wir wagen uns nicht in den Flur. Die Männer meines Vaters haben bereits auf uns geschossen.«

»Ich rufe sofort die Polizei an«, versicherte ihr Hobson.

»Wenn die Beamten auf dem Weg sind, rufen Sie meinen Vater an. Ich bleibe in der Leitung, damit Sie hören können, falls er versucht, das Zimmer zu stürmen. Sagen Sie ihm, dass Sie mit mir reden und dass die Polizei kommt. Und befehlen Sie ihm, mit dem Schießen aufzuhören. Er wird uns töten, wenn die Polizei nicht bald hier ist.«

»Geben Sie mir die Nummer des Landsitzes.«

Nachdem Vanessa ihm die Telefonnummer genannt hatte, rief Hobson Detective Walsh über das Hoteltelefon an. Walsh nahm nach dem ersten Klingeln ab. Er klang noch schläfrig.

»Howard, hier spricht Victor Hobson. Ich habe Vanessa Wingate am Telefon. Sie hat sich in einem Zimmer im ersten Stock von General Wingates Anwesen in Kalifornien verbarrikadiert. Carl Rice ist bei ihr, sie sind bewaffnet. Vanessa hat mir versichert, sie würden sich den Polizeibeamten ergeben, wenn die sie aus dem Haus holen. Rufen Sie die Polizei in San Diego an! Sie sollen sofort zu Wingates Haus fahren. Erklären Sie ihnen die Lage. Vanessa sagt, die Sicherheitsbeamten ihres Vaters würden auf sie schießen. Ich rufe den General an und versuche, die Lage zu entschärfen.« Hobson beschrieb Walsh, wo Wingates Besitz lag, legte auf und wählte die Nummer des Anwesens.

»Geh ran, General!« schrie Vanessa, als das Telefon im Haus schrillte. »Ich spreche mit einem Stellvertretenden Direktor des FBI über Sams Handy. Wir werden uns der Polizei stellen. Er hört alles, was hier passiert. Und er will mit dir reden. Haben Sie mich gehört?« fragte sie anschließend Hobson.

»Ich höre Sie«, versicherte ihr der FBI-Mann.

»Mein Vater weiß, dass Sie anrufen. Wenn er uns erschießt, ist das Mord.«

Es klickte im Hoteltelefon. »Wer ist da?« fragte General Wingate.

»Victor Hobson. Ich bin Stellvertretender Direktor des FBI. Wir haben vor vielen Jahren miteinander gesprochen, als ich den Mord an dem Kongressabgeordneten Eric Glass untersucht habe.«

»Ich erinnere mich. Damals waren Sie noch ein einfacher Agent.«

»Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ihre Tochter hat mich angerufen. Sie telefoniert über ein Handy mit mir und hört alles, was ich sage. Offenbar ist die Situation in Ihrem Haus ziemlich heikel.«

»Meine Tochter ist krank, Direktor Hobson. Carl Rice, der Mörder von Eric Glass, saß in Portland, Oregon im Gefängnis. Vanessa hat ihm zur Flucht verholfen. Er ist zwar verrückt, aber sehr gerissen. Rice hat Vanessa davon überzeugt, dass ich irgendein Superverbrecher bin, der sie beide umbringen will. Meine Männer haben Vanessa aus Rices Gewalt befreit, aber er konnte entkommen. Ich habe Vanessa hierher bringen lassen, damit ich ihr die Hilfe geben kann, die sie braucht. Ich wollte die Behörden verständigen, sobald ich einen Anwalt gefunden habe, der sie vertritt. Doch Rice ist in mein Haus eingedrungen, hat einige meiner Sicherheitsleute getötet und wollte mich ebenfalls umbringen. Ich konnte entkommen, und jetzt halten meine Sicherheitsbeamten ihn in Schach. Er hat einen meiner Leute als Geisel genommen, falls er ihn nicht schon umgebracht hat.«

»Okay, General. Befehlen Sie jetzt Ihren Leuten, das Feuer einzustellen«, erwiderte Hobson. »Die Polizei von San Diego ist bereits verständigt und unterwegs zu Ihnen. Vanessa sagt, sie und Rice würden sich den Beamten stellen, also brauchen Sie die beiden nicht mehr länger festzuhalten.«

»Hast du das mitgekriegt?« schrie Vanessa an Hobsons Handy ihren Vater an. »Direktor Hobson bekommt alles mit, was du tust. Carl und ich geben unsere Waffen ab, wenn die Polizei kommt. Wir werden niemanden bedrohen, also kann uns auch niemand in Notwehr umbringen oder weil wir uns angeblich der Verhaftung widersetzt hätten. Wenn du uns erschießt, wirst du wegen Mordes angeklagt.«

Die zweite Amtsleitung an Hobsons Hoteltelefon blinkte.

»Ich lege Sie einen Moment auf die Warteschleife, General«, sagte er. »Ich bekomme gerade einen Anruf. Vermutlich von der Polizei.«

»Ich warte«, erwiderte Wingate. »Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Männer werden nicht schießen. Ich will nicht, dass Vanessa etwas passiert.«

Hobson ließ sich kurz von Detective Walsh auf den neuesten Stand bringen und sprach dann mit Wingate weiter.

»Die örtliche Polizei ist in wenigen Minuten da, General. Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Leute am Tor sie hereinlassen.«

»Natürlich. Direktor Hobson, würden Sie meine Tochter jetzt bitten, als Zeichen ihres guten Willens meinen Mann freizulassen?«

»Vanessa?«

»Ja.« »Ihr Vater sagt, Sie hätten eine Geisel.«

»Er ist keine Geisel. Dieser Mistkerl hat mich gekidnappt. Sie kennen ihn. Es ist Sam Cutler.«

»Ihr Freund?«

»Mein Ex-Freund. Mein Vater hat ihn bezahlt, damit er mich im Auge behält. Er hat mir die Spritzen gegeben und versucht, Carl umzubringen.«

»Lassen Sie ihn frei? Als Zeichen Ihres guten Willens?«

»Ich sollte den Dreckskerl umbringen, aber ich gebe ihm seinem Herrn und Meister zurück, wenn Carl einverstanden ist.«

Hobson lauschte angestrengt. Er hörte, wie Vanessa und Rice sich berieten, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten.

»Okay. Sagen Sie dem General, er soll seine Leute abziehen, dann legen wir ihn in den Flur. Er ist noch bewusstlos.«

»Vanessa ist einverstanden, Ihren Mann herauszugeben, General, wenn Sie Ihre Leute von der Tür abziehen.«

»Einverstanden.«

»Gut.«

»Darf ich Sie noch um etwas bitten?«

»Worum?«

»Bitten Sie die Polizei, meine Tochter behutsam zu behandeln. Sie ist schwer krank. Ich glaube, sie nimmt die Wirklichkeit nicht mehr richtig wahr. Sie gehört in eine Klinik, nicht ins Gefängnis.«

Vanessa hörte nur Hobsons Antworten mit, aber sie konnte sich sehr genau vorstellen, was ihr Vater sagte. Natürlich würde er lügen und Hobson einreden, dass Carl und sie verrückt waren.

Sobald Hobson ihr gesagt hatte, dass der General seine Männer zurückgezogen hatte, gab Carl Vanessa seine Waffe.

»Er scheint noch ohnmächtig zu sein«, meinte Carl, »aber schieß sofort, wenn er es nur spielt.« Vanessa richtete die Waffe auf Cutler. Carls Schulter schmerzte höllisch, als er das Bett aus dem Weg schob und den Stuhl unter dem Türknauf fortzog. Dann packte er Cutler unter den Armen und zerrte ihn zur Tür. Vanessa folgte ihnen und hielt dabei die Mündung der Waffe auf Cutler gerichtet. Er schien zwar noch bewusstlos zu sein, aber Vanessa wollte nichts riskieren.

Carl schleppte Cutler zur Tür, die Vanessa für ihn öffnete. Der Flur war leer. Carl legte Cutler auf den Boden und schob ihn hinaus. Vanessa schlug die Tür zu. Carl rammte den Stuhl wieder unter den Knauf und wuchtete das Bett davor.

»Wir haben getan, was Sie wollten«, erklärte Vanessa Hobson. »Sam liegt im Flur, unversehrt und schlafend. Jetzt ist es Ihr Job, uns hier herauszuholen.«

»Die Polizei ist gleich da«, sagte Hobson.

Vanessa setzte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Knie an die Brust.

»Wie geht es dir?« wollte Carl wissen.

»Mir geht's gut, ich bin nur sehr müde. Das liegt bestimmt an diesen Drogen.«

»Ihre Wirkung wird bald nachlassen.«

Vanessa schloss die Augen.

»Tut mir leid, dass ich dich in diese Sache hineingezogen habe«, sagte Carl.

»Das hast du nicht. Immerhin habe ich dich aus der geschlossenen Abteilung befreit.«

»Und jetzt landen wir vermutlich beide hinter Gittern. Ich wollte nicht, dass es dazu kommt.«

»Warum hast du versucht, mich zu retten, Carl? Du hättest schon längst weit weg sein können, in Sicherheit.«

»Ich habe dich einmal im Stich gelassen. Noch einmal wollte ich das nicht tun. Ich habe mich von dem General verführen lassen. Diese Entscheidung hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt.«

»Glaubst du, wir wären zusammen geblieben, wenn du aufs College gegangen wärest? Ich war damals ziemlich durchgeknallt.« Sie lachte. »Das bin ich wohl immer noch.«

»Ich habe keine Ahnung, wie es mit uns weitergegangen wäre. Ich weiß nur, dass ich dich enttäuscht habe.«

»Also wolltest du das wiedergutmachen, indem du die Burg des bösen Generals stürmst?«

»Ich habe nur mein Wort gehalten. Du hast mich gerettet, und ich habe dir versprochen, dich zu holen. Genau das habe ich auch getan. Es tut mir nur leid, dass es kein Happy End gibt wie im Kino.«

»Ach, ich weiß nicht. Im Kino rückt die Kavallerie auch immer erst in letzter Sekunde an.«

Vanessa deutete auf die Hauswand. Rice hörte das leise Heulen von Sirenen. »Wir kommen hier heraus und wir überleben«, erklärte sie.

»Aber wir werden beide im Gefängnis landen.«

Vanessa umklammerte Carls Unterarm. »Wir werden ihn besiegen. Ich weiß es. Ich bin nur noch nicht dahinter gekommen, wie wir das anstellen können, aber wir werden meinen Vater bezwingen.«

Vanessa stieß diese Worte inbrünstig hervor, doch Carl war davon überzeugt, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen musste. Wingate würde es vermutlich gelingen, Vanessa vor dem Gefängnis zu bewahren, aber sie würde Jahre, wenn nicht sogar den Rest ihres Lebens in einer psychiatrischen Klinik verbringen.

Er schlang seinen gesunden Arm um ihre Schultern und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Sicher werden wir das, Vanessa. Ganz bestimmt.«

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